M. J. Bucher: Die Reichsdeutsche Jugend in der Schweiz, 1931–1945

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Titel
Führer, wir stehen zu dir!. Die Reichsdeutsche Jugend in der Schweiz, 1931–1945


Autor(en)
Bucher, Martin J.
Erschienen
Zürich 2021: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
392 S.
von
Moritz Faist

Bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wurde die Reichsdeutsche Jugend (RDJ) in der Schweiz ins Leben gerufen, die zwischen 1931 und 1945 ein Auslandsableger der Hitler-Jugend (HJ), der Jugendorganisation der NSDAP, war. Die HJ hatte seit Anfang der 1930er Jahre die Aufgaben, auch im Ausland, Kinder und Jugendliche mit reichsdeutscher Staatsangehörigkeit insbesondere durch Propaganda an die NS-Ideologie heranzuführen und zu binden.

Mit der Betrachtung der RDJ in der Schweiz widmet sich Martin J. Bucher in seiner an der Universität Zürich im Jahr 2019 angenommenen Dissertation einem bislang weitestgehend unerforschten Kapitel der Schweizer Zeitgeschichte. Ziel seiner Studie ist die Darstellung der Organisation und Aktivitäten der RDJ in der Schweiz. Der Autor arbeitet dabei mit einem transnationalen Ansatz, um die grenzüberschreitenden Ziele der NS-Politik und die damit einhergehende enge Verbindung zwischen den Vorgängen in Deutschland und der Schweiz im Rahmen der RDJ sichtbar zu machen.

Aufgeteilt ist die Darstellung in zwei grosse Teile mit 13 Unterkapiteln. Im ersten Teil analysiert Bucher den Aufbau und die Organisation der RDJ. Geführt durch die Landesjugendführung und gegliedert wie die HJ, hatte die RDJ zwischenzeitlich bis zu 2500 Mitglieder an 47 Standorten in der gesamten Schweiz (S. 76; 123 f.). Damit war die RDJ eine der grössten Auslandsabteilungen der HJ ausserhalb NS-Deutschlands. Sie arbeitete eng mit den zuständigen Stellen in Deutschland zusammen, was sich unter anderem daran zeigte, dass der Landesjugendführer nicht nur der Landesgruppenleitung der NSDAP in der Schweiz, sondern auch der Reichsjugendführung in Berlin unterstand. Daneben wurden zunehmend erfahrene reichsdeutsche HJ-Führer in die RDJ versetzt (S. 36; 366). Bucher stellt die RDJ in diesem Kontext als einen wichtigen Bestandteil der transnationalen Anstrengungen der NSDAP dar, die auslandsdeutsche Jugend zu kontrollieren – in den 1930er Jahren zunächst durch Ideologisierung, nach Kriegsbeginn zunehmend in Bezug auf Unterstützung der deutschen Kriegsanstrengungen. Gleichzeitig macht er deutlich, dass sich die reichsdeutschen Jugendlichen in der Schweiz dem teilweise starken Beitrittsdruck leichter entziehen konnten.

Bei der Untersuchung des Verhaltens der Schweizer Behörden gegenüber den dortigen NS-Organisationen und somit auch der RDJ attestiert er eine «laisser-faire-Haltung» (S. 146). Die Behörden beobachteten die Aktionen der RDJ zwar genau, liessen sie jedoch in vielen Fällen gewähren, um, vor allem während der Kriegszeit, auf unnötige Provokationen gegenüber NS-Deutschland zu verzichten. Aktiv wurden die Behörden hingegen im öffentlichen Raum, beispielsweise bei der Durchsetzung des Uniformtrageverbots (S. 94). Im Gegenzug habe die RDJ auf provokante Aktionen verzichtet, um den Behörden wenig Handhabe gegen sich zu bieten (S. 145–147). Durch das zurückhaltende Vorgehen konnte sich somit eine «gut funktionierende RDJ» herausbilden (S. 42), was deren rasche Ausbreitung auf weite Teile der Schweiz ermöglichte. Erst mit dem Verbot aller nationalsozialistischer Organisationen in der Schweiz bei Kriegsende im Mai 1945 endete auch die Geschichte der RDJ, die zu diesem Zeitpunkt noch immer knapp 1900 Mitglieder aufwies (S. 50). Im Rahmen der folgenden «Säuberung» wiesen Schweizer Behörden etwa 40 RDJ-Führer aus. Allerdings konnten sich einige dank Kontakten zu einflussreichen Stellen einer Ausweisung entziehen (S. 57). Dies unterstreiche gemäss dem Autor die weiterhin wenig konsequente Politik der Schweizer Behörden gegenüber den NS-Organisationen in der Schweiz (S. 68).

Im zweiten Teil der Darstellung beschreibt Bucher die konkrete weltanschauliche Arbeit der RDJ am Beispiel von Heimabenden, gemeinsamen Feiern (NS-Feier- und Gedenktagen etc.), Sportveranstaltungen und Fahrten sowie Lageraufenthalten in der Schweiz wie auch in NS-Deutschland. Daneben kam es zu einer beschränkten Zusammenarbeit mit der faschistischen Jugend in der Schweiz, währenddessen die Jugendorganisationen der Frontisten wohl zu unbedeutend für engere Kontakte waren. Die Schweizer Pfadfinder zeigten keine «Affinität» zur RDJ (S. 316), auch wenn anfänglich teils durchaus Bewunderung bei einigen ihrer Funktionäre vorherrschte. Weiter erläutert Bucher, dass es auch zu Zusammenstössen von Schweizern mit RDJ-Angehörigen kam, beispielsweise mit Basler Jungkommunisten (S. 327). Dies resultiere aus dem Umstand, dass ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung den Aktivitäten der RDJ «kritisch bis feindlich» gegenübergestanden habe (S. 325).

Bucher kommt in seinem Fazit zum Schluss, dass die RDJ für das NS-Regime einerseits ein wichtiger transnationaler Bestandteil von dessen Mobilisierungs- und Ideologisierungsstrategie als auch später als Werbung für den Kriegsdienst diente (S. 351). Andererseits macht er die Grenzen der Auslandsarbeit der HJ in der Schweiz deutlich, namentlich die schwierige Mitgliedergewinnung und die Anfeindungen aus der Schweizer Bevölkerung (S. 352). Daher konnte die RDJ ihr angestrebtes Ziel, maximalen Einfluss auf die deutschen Jugendlichen in der Schweiz zu gewinnen, anders als von den Nationalsozialisten erhofft, nur begrenzt erreichen (S. 353). Obwohl ein erheblicher Teil der in der Schweiz lebenden reichsdeutschen Jugendlichen zumindest zeitweilig Mitglied in der RDJ war, konnte sie nicht an die Erfolge der HJ im Reich anknüpfen. Auch sei von der RDJ nie die Gefahr einer nationalsozialistischen «fünften Kolonne» in der Schweiz ausgegangen. Dies zeige sich am Verhalten der Schweizer Behörden, das Bucher als von einer «mangelnde[n] Reaktion oder sogar Passivität» (S. 353) gekennzeichnet sieht.

Martin J. Bucher gelingt dank sehr gründlicher Quellenarbeit sowie einer detaillierten Analyse eine überzeugende Darstellung der RDJ. Sein transnationaler Fokus erweist sich für auf die Schweizer Geschichte einmal mehr als wertvoll, da deutlich gemacht wird, wie das NS-Regime auch grenzüberschreitend versuchte, Einfluss auf die eigene Jugend zu nehmen. Gleichzeitig stellt sich die dem Leser die Frage, ob ein konsequenteres Handeln der Schweizer Behörden angesichts der vergleichsweisen Schwäche der RDJ überhaupt einen grösseren Unterschied gemacht hätte.

Insgesamt legt Martin J. Bucher ein lesenswertes Werk vor und schliesst damit eine weitere Forschungslücke in der Schweizer Zeitgeschichte.

Zitierweise:
Faist, Moritz: Rezension zu: Bucher, Martin J.: Führer, wir stehen zu dir! Die Reichsdeutsche Jugend in der Schweiz, 1931–1945, Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 84-85. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

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